Windjammerparade

Das majestätische Fortbewegungsmittel

Erinnerungen von Anne Richter

Als leidenschaftliche, aber nicht besonders talentierte Geräteturnerin im örtlichen Sportverein TSV Trappenkamp in Holstein zogen die Olympischen Spiele 1972 nicht spurlos an mir vorüber. Natürlich wollte ich Olga Korbut nacheifern und bei den nächsten Spielen Medaillen für Deutschland holen. Wie unrealistisch das Erreichen dieses Ziel war, konnte ich mir in meinem kindlichen Eifer nicht vorstellen, denn es thronte ein aufblasbarer Olympia-Dackel Waldi in meinem Kinderzimmer. Dieser sei sicher auch als persönliches Maskottchen für mich da, so meine Überzeugung. Abgesehen von dieser Fernteilnahme am Geschehen im Olympiastation in München, die durch schwarz-weiß Fernseher in der Nachbarschaft ermöglicht wurden, erlebt ich die Olympischen Spiele aber auch hautnah.

Als erstes wurde in meiner Wahrnehmung der Ort Wankendorf an der B 404 mit einem Stück Autobahn umrundet. Damit die Gäste der Segelolympiade nicht im Stau stünden, so wurde mir erklärt. Das leuchtete mir ein, denn ich hatte schon öfter in unserem Auto – damals ohne Klimaanlage – im Stau gestanden und konnte mir vorstellen, wie unerträglich heiß so ein Stau im Hochsommer sein würde. Dann begriff ich, dass in Schilksee ein ganzes Dorf für die ausschließlich männlichen Segler in unmittelbarer Nähe des neuen Segelhafens entstand. Das befand ich als okay, musste es aber nicht weiterverfolgen, denn das war ja Männersport.

Das änderte sich, als mein Vater mich und meine Schwester ins Auto lud und ans Ostufer der Förde fuhr, um die 1. Windjammerparade auf der Kieler Förde mitzuerleben. Es war strahlendes Wetter und so wenig Wind, dass die 70 Großsegler unter vollen Segeln in die Förde einliefen. Diese Bilder der Schönheit und Freude gingen um die Welt. Besonders majestätisch empfand ich die strahlend weißen Segel der Gorch Fock. Besonders ungerecht empfand ich, dass ich dort nie an Bord gehen würde, weil das Segelschulschiff der deutschen Marine den Soldaten, also den Männern vorbehalten war. Aber wir Mädchen bekamen ein Eis, was den Tag zu einem besonders Guten machte. Heute weiß ich, dass fast eine halbe Million Menschen am 3. September 1972 die Ufer der Kieler Förde säumten, und ich war mittendrin. Als die Großsegler ihre Segel wieder eingeholt hatten und vor Anker gingen, begaben wir uns zurück zu unserem Auto und direkt in den längsten Stau für die kürzeste Strecke meiner Kindheit. Dass ein kleines Stück Autobahn (jenes auf der Höhe von Wankendorf) gar nichts bringt, wenn alle Zuwege und Straßen verstopft sind, weiß ich seitdem. Aber die majestätische Fortbewegung allein durch Wind hat mich an diesem Tag überzeugt, Autofahrten wurden dafür noch unbeliebter.
Als Jugendliche habe ich später doch noch als Regattateilnehmerin der Kieler Woche in Schilksee geschlafen. An Bord eines Marinekutters trat unsere gemischte Schulmannschaft gegen Marinebesatzungen und andere Schulen an. Ich war eine von zwei Frauen in der Regatta. Ein Turnturnier habe ich nie bestritten.
Fazit:
1. Das Live-Erlebnis hat in seiner Auswirkung auf meine Biografie die Fernsehberichte aus München geschlagen.
2. So kann frau irren.

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