Manchmal ist es ein nur ein Kleidungsstück, das die Erinnerungen an die Olympischen Spiele von 1972 wieder lebendig werden lässt. Im Falle von Tilman Sachße ist es eine Jacke in Olympia-Grün. Der 66-Jährige zeigt sie stolz vor und erzählt, was es damit auf sich hat: „Die Jacke gehörte meinem Vater, der Hindernisrichter war. Das waren die Wettkampfrichter, die beim Reiten direkt neben den Hindernissen platziert waren.“ Sachßes Vater Erich, von jeher leidenschaftlicher Reiter, ist aus Liebe zu seinem Sport bei den Olympischen Spielen als Ehrenamtlicher tätig. Sein Einsatzort war der Streckenabschnitt der Vielseitigkeitsreiter:innen in der östlich von München gelegenen Gemeinde Poing. Sachße Senior († 1999) wacht über die Sprünge und zeigt an, wenn Reiter:innen und Pferd Fehler unterlaufen. Dabei trägt er die grüne Jacke, entworfen vom französischen Spiele-Couturier André Courrèges, farblich gestaltet von Olympia-Designer „Otl“ Aicher und zu sehen auf einem Foto, das Erich Sachße zusammen mit seinen drei Söhnen vor einem der Hindernisse in Poing zeigt. Die Aufnahme weckt bei Tilman Sachße sowohl Erinnerungen an seinen Vater als auch an die Zeit der Spiele generell. Aber auch das akribisch geführte Tagebuch seines Vaters, auf den einzelnen Seiten versehen mit den olympischen Ringen, rückt die 16 Tage der Spiele von München wieder ins Bewusstsein von Tilman Sachße – ihre hellen, aber auch ihre dunklen Tage. So schreibt der in Reiterkreisen bestens vernetzte Erich Sachße unter dem 28. August: „Abends mit den Klimkes (gemeint sind der vielfache Medaillengewinner Dr. Reiner Klimke und dessen Ehefrau) im Circus Krone, auf Einladung der Familie Sembach.“ Sie waren also Gäste der Direktoren-Familie. Unter dem 5. September, Datum des Attentats auf Mitglieder der Olympia-Mannschaft aus Israel, findet sich ein Eintrag aus nur zwei Worten, der jedoch widerspiegelt, was Menschen auf der ganzen Welt damals dachten: „Schwarzer Tag“. Der nächste Eintrag, unter dem 6. September, lautet: „Trauriges Erwachen im Teufelskreis des Hasses und des Mordens.“ Alle in der Familie von Erich Sachße teilen die Trauer des Vaters. Jahre später aber bekommt der Ort des Attentats, das Olympische Dorf, für Tilman Sachße eine neue Bedeutung. Als Student in München bezieht er einen Bungalow im ehemaligen Dorf der Sportler:innen, der ihm für die nächste Zeit als Unterkunft dient. Und damit der Flachbau nicht traurig-grauer Beton bleibt, malt ihn Tilman Sachße „in allen möglichen Farben und von oben bis unten bunt an“.
Beitrag entstanden im Erzählcafé München 72
Text von Michael Weilacher, basierend auf einem Interview mit Tilman Sachße