Von Helena Grebner
„Ich suche den Herrn Schmidt. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber er war damals Eisverkäufer“, so beginnt der Abend mit einer Suche, geleitet von dem unwahrscheinlich anmutenden Wunsch, etwas oder jemanden (wieder) zu finden. „Ja, hier!“ – und tatsächlich, in der zweiten Reihe erhebt sich ein Mann. Für einen kurzen Moment spiegelt sich Überraschung im Gesicht der Fragenden, so als wäre die in den Raum geworfene Erkundigung eher rhetorischer Natur, so als habe sie selbst nicht ernsthaft damit gerechnet, dass hier, heute am 19. November 2022, in einem kleinen Saal des Münchner Stadtmuseums, gute sechs Kilometer vom Olympiapark entfernt und ganze 50 Jahre später, Herr Schmidt anwesend sein könnte, der Eisverkäufer.
Auch die Planung der Veranstaltung „Erzählungen feiern!“ startete vor vielen Monaten mit einer Suche: Im Februar 2022 machte das Stadtmuseum München einen Aufruf publik: „Wir suchen Erinnerungen zu München 72“, hieß es dort und es folgte eine weit höhere Resonanz als erwartet. 130 Menschen besuchten das eigens für das Erinnern eingerichtete Erzählcafé des Stadtmuseums, um ihre persönlichen Erinnerungen zu teilen. Etliche durchforsteten ihre Keller, blätterten alte Fotoalben durch, suchten und fanden: die alte Hostessenuniform, Souvenirs, Plakate, Schilder aber auch Super 8 Filmaufnahmen, Dias und Fotos. Diese Medien konnten in dafür entwickelten Stationen im Erzählcafé von Zeitzeug*innen selber digitalisiert werden. Das Material eröffnet vielschichtige, individuelle Blickwinkel und Perspektiven auf München 72, welche bereits bekannte journalistische Fernsehbilder und Archivaufnahmen ergänzen.
Diese ganz persönlichen Erinnerungen sollen an dem heutigen Abend eine Bühne erhalten. So sind die individuellen Rückblicke von damals zunächst singuläre, für sich stehende Erinnerungen, die sich nun zu einer gemeinschaftlichen Erzählung, einer kollektiven Erinnerungsspur verdichten und einen gemeinsamen Raum zum Klingen bringen. Denn hier geht es nicht um das Referieren zu den Abläufen der Olympischen Spiele 1972, es geht nicht um die Chronologie des Attentats am 5. September, es geht nicht um theoretischen Input, sondern um das performative (Wieder-)Erleben im Erzählen. Es sind die sich ergänzenden und an manchen Stellen vielleicht auch sich widerstreitenden Bilder und Narrative, die die Ambivalenz der einst heiter geplanten und von einem Attentat überschatteten Spiele zur Aufführung bringen und diese auch für diejenigen spürbar machen, die den Spielen damals nicht beiwohnten.
Im ersten Teil der Veranstaltung präsentieren acht Zeitzeug*innen auf je individuelle und unterschiedliche Weise ihre Erinnerungen. Im zweiten Teil des Abends werden Gäst*innen und Publikum dazu eingeladen, sich auszutauschen, sich zu begegnen.
„Ich habe das Licht angemacht!“, erzählt der Mann und zeigt Fotos von den riesigen Flutlichtscheinwerfern, die das Olympiastadion ausleuchteten. Sein Arbeitsplatz: Das Lichtregiepult hoch über den Tribünen. Und so wie er 1972 das Licht für die Bühne der Olympischen Spiele freigab, so bildet er 50 Jahre später nun den Auftakt für die heutige Veranstaltung. Von der Lichtkanzel geht es nun mitten hinein ins Geschehen: Da ist die ehemalige Hostess, die für den heutigen Abend eine andere junge Frau gebeten hat, ihr damaliges Dirndl in den hellen Blautönen zu tragen. Sie erzählt von den Farben, die die Spiele durchzogen haben und die sich seither durch ihr Leben zeichnen und sich auch in ihrer Wohneinrichtung widerspiegeln. Sie selbst ist mit dem Olympiablau von damals geschminkt, „es war bunt, diese Stimmung war unerklärlich und es passte zu meiner damaligen Zeit als junge Frau“, erzählt sie und vielleicht sind es diese Farben, die Aqua-Töne, die sie diese Stimmung heute wieder erleben lassen. Andere ehemaligen Hostessen knüpfen an diese Atmosphäre an, erzählen von einer unbeschwerten Zeit, von einer unglaublichen Freiheit, einer Grenzenlosigkeit. Überall durften sie sich frei bewegen, den Sportler*innen ganz nahe sein, abends mit ihnen auf der Tanzfläche stehen, und dort, Mark Spitz, den US-Amerikanischen Schwimmer, aus nächster Nähe sehen. Es gab keine Absperrungen, keine Hierarchien von jenen dort und den Dienstleistenden hier, nein, es fühlte sich so an, Teil von einem großen Ganzen zu sein und gemeinsam an einer kollektiven Erfahrung teilzuhaben und mitzuwirken. Denn auch das spürten sie deutlich, ihre Arbeit war von unschätzbarem Wert – wären nicht die vielen tausend Hostessen gewesen, hätte gar nichts funktioniert.
Da ist der junge Bote, damals gerade 17 Jahre alt und eine Szene hat sich ihm unvergesslich eingeprägt: Ulrike Meyfarth, selbst noch so jung, bis dato kaum bekannt, und sie springt – 1,92 Meter. Weltrekord. Er war dabei, mittendrin. Und das Stadion jubelt. Ohrenbetäubend. Seine Augen glitzern beim Erzählen, die Stimmung hallt in ihm, in seinem 17-Jähigen Ich, nach. „Das war’s von mir.“, sagt er. Und dann zögert er und wiederholt es doch nochmal, muss es wiederholen: „80.000 Menschen haben gejubelt und wir haben die Goldmedaille gewonnen.“
Da sind zwei Freunde und wie sie da gemeinsam auf der Bühne stehen, werden die spitzbübischen Jungs von damals sichtbar. Am Pförtner sind sie vorbeigeschlichen, um überhaupt ins Boten-Team aufgenommen zu werden, den Bauch mit Magnum-Eis haben sie sich vollgeschlagen, und all die Ausflüge mit der Vespa, eigens für ihre Botentätigkeit bereitgestellt, daran erinnern sie sich lachend. Abends, als alles erledigt war, seien sie damit unerlaubt über den Olympiaberg „gefetzt“, wie sie sagen. Eine Gaudi sei das gewesen. Sie grinsen.
„Aber wir haben auch Piktogramme verteilt. Ohne uns hät‘s gar keine Orientierung gegeben“, fügen sie beinah rechtfertigend hinzu und so orientierungslos, wie die beiden damals 16-jährigen Buben über das Gelände getollt sind, haben sie gleichzeitig für das Zurechtfinden auf dem Gelände gesorgt. Stimmungsumschwung. Aus der Aufbruchsstimmung, der Heiterkeit, Leichtigkeit, der Feierlaune keimt plötzlich Hektik auf und es wird ganz leise. „Plötzlich war alles so still“, erinnert sich eine ehemalige Verkäuferin von Anstecknadeln. Auch die beiden Freunde beenden ihre Erzählung mit einer empfundenen Ernsthaftigkeit, die sich schlagartig über ihren Schalk legte. Eine Fassungslosigkeit, eine Traurigkeit lag in der Luft. Das Attentat hat alle bewegt und während es in manchen Erzählungen gar nicht oder nur subtil anklingt, so als dürfe dieser Stimmungsumschwung nicht über die empfundene Heiterkeit obsiegen, stellt diese Dimension den Kern des Erinnerns für einen ehemaligen Polizisten dar. 24 Jahre war er damals alt und beteiligt im Einsatz am 5. September 1972. Sein Blick zeichnet ein anderes Bild von der gesellschaftlichen Stimmung in der Stadt zu der Zeit und macht damit eine schmerzhafte Ambivalenz sichtbar, die in ihrer Gleichzeitigkeit nicht leicht zu erfassen und vielleicht auch nur in ihrer Einseitigkeit erlebbar ist.
Während die einen München als eine Stadt im Aufbruch erleben – die erste U-Bahn kommt, bunt ist sie, von internationaler Bedeutung, die Stimmung von Leichtigkeit und Heiterkeit gezeichnet – so ist das gesellschaftliche Bild aus anderer Perspektive von aufgeheizten politischen Spannungen und Gewalt geprägt. Eine Geiselnahme in der Prinzregentenstraße rund ein Jahr vor den Olympischen Spielen erschütterte die Stadt, etliche Demonstrationen mit teilweise gewaltsamen Zusammenstößen prägten das Straßenbild. Auch während der Spiele wurden Nebendemonstrationen geräumt, darunter auch der Straßenstrich. Insofern musste ein bestimmtes ‚bereinigtes‘ Bild von München, welches Harmonie und Harmlosigkeit vermitteln sollte, erst mithilfe der Polizei erzeugt werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, reihte sich die Geiselnahme der israelischen Mannschaft in den frühen Morgenstunden des 5. Septembers 1972 in eine bereits vorhandene aufgeheizte gesellschaftspolitische Atmosphäre ein. Was für die einen wie ein harter Bruch im Erleben empfunden wurde, war für andere, wie dem damaligen Polizisten im Einsatz, eine sich fortführende Chronologie, die ihre Zuspitzung an jenem Tag fand. Ohne entsprechende Schulung, ohne Schutzwesten, ohne konkrete Anweisung wurde die Münchner Lokalpolizei angewiesen, den Ort der Geiselnahme zu bewachen. Ein Tag in angespannter Wartehaltung. Später auf dem Flugplatz – es ist mittlerweile späte Nacht –lautete die Devise, zu verhindern, dass die Geiselnehmer ins Dunkle verschwinden. „Aber wie machen Sie das?“, fragt er, der ehemalige Polizist, jetzt an das Publikum gewandt. Stille im Saal. Der Stimmungsumschwung ist auch hier im Gegenwärtigen spürbar. Die zuvor über die Super 8-Aufnahmen transportierte Euphorie über Purzelbaum-schlagende Kinder, sich küssende Liebespaare, sich angeregt unterhaltende Menschen, erscheint weit weg. Dann kommt der Schießbefehl. Der 24-jährige Polizist liegt dort im Gras und hofft. Über Stunden. Bis Ruhe einkehrt – und keine der Geiseln noch am Leben ist. Die überlebenden Terroristen, teils unter den Leichen versteckt, werden festgenommen und übergeben. Beinahe hastig verlässt er nun das Podium, wie um da wieder rauszukommen aus dem Gras am Flugplatz, aus der Dunkelheit, den Schüssen und der betäubenden Stille.
Als Untergangsstimmung habe er damals den Tag des 5. Septembers empfunden, greift nun der ehemalige Verkehrsplaner des Olympiapark-Geländes die Erzählung auf und legt ergänzende Erinnerungsspuren. Vier Jahre habe er so hart für die Olympiade gearbeitet und dieser Tag mag sich so gar nicht in diese investierte Knochenarbeit einfügen. Es ist ein Riss in der Erfahrung, eine unvermittelt aufscheinende Leerstelle, die so nicht vorgesehen war, die nun all die Arbeit buchstäblich überrumpelt und Fassungslosigkeit erzeugt. Als Verantwortlicher für den reibungslosen Verkehr auf dem Gelände war er nun in der Position, den Busfahrer zu instruieren, zu den Terroristen zu fahren und sie mit den Geiseln zum Flugplatz zu bringen. Für sein persönliches Erleben war es umso wichtiger, dass die Spiele nur für kurze Zeit während des Attentats unterbrochen worden sind und dann weitergehen durften. Die Kritik an der so kurzen Unterbrechung angesichts der Ereignisse ist aus anderer Perspektive wiederum genauso nachvollziehbar.
Den Abschluss bildet das Olympia-Maskottchen Waldi im Schnee – 10.000 Kilometer vom Gelände des Olympiaparks in München entfernt und auf 5000 Metern Höhe. Willi Daume, damals Präsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, übernahm die Schirmherrschaft für eine groß angelegte Bergexpedition in Ecuador. Die Bergsteiger erklommen mit Wimpel und Waldi die Gipfel. Die Frau des bereits verstorbenen Bergsteigers erinnert an die damalige Erstbesteigung ihres Mannes und zeigt Fotos von Waldi: „Und auf einem der Gipfel weilt er vielleicht immer noch und womöglich bewacht er von dort das Gebirge.“ So wanderte also ein Stück Stadtgeschichte einmal um den Globus auf Gipfel, auf denen zuvor noch nie ein Mensch gewesen ist.
Und so dreht sich der Abend spiralförmig vom Lichtregiepult hinein ins Geschehen, macht vielschichtige Dimensionen des Erlebens und Erinnerns sicht- und spürbar, wirft Schlaglichter auf ein Ereignis, welches tief in der Stadtgeschichte verankert ist und bringt es in einer Lebendigkeit und Einmaligkeit in der Gegenwart zum Vorschein. Das persönliche Erinnern, die tatsächliche Ko-Präsenz von Zeitzeug*innen und Publikum, welche in einer spiegelhaften Verdopplung das früher Gewesene in einem gegenwärtigen Raum zu einem kollektiven Erleben verdichten, macht Erinnern als Resonanzkörper sichtbar.
Das Erinnern wird zu einer polyphonen Narration, welche ein sich-in-Bezug-Setzen der Zuhörenden ermöglicht und so reproduzieren sich atmosphärische Empfindungen, die weit in die Vergangenheit reichen und im Hier und Jetzt in einem kleinen Saal des Münchner Stadtmuseums erlebbar werden.