Wie wird Geschichte gemacht? Ein mediengestützter partizipativer Stadtspaziergang. Von Helena Grebner.
Hintergrund
„Sieht hier ein bisschen aus wie eine Playmobil-Landschaft. So künstlich irgendwie.“ – Der Olympiaberg ist keine natürliche Erhebung, sondern eine künstlich von Menschenhand geformte Landschaft. In gewisser Weise ist er ein Sinnbild für materialisierte Geschichte. Wo heute Freizeit und Erholung stattfindet und Münchner*innen über grüne Rasenflächen spazieren, waren früher Schutt und Trümmer. Eine mediengestützte partizipative Wanderung ermöglicht dabei sowohl eine unmittelbare Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Fragmenten, die sich in alltäglicher Umgebung widerspiegeln als auch ihr interaktives Erleben im Gegenwärtigen: Wie wird Geschichte in der Umgebung und im Alltag sichtbar? Wie wird sie gemacht? Welche Narrationen entstehen und setzen sich durch? Und wie können diese partizipativ erweitert, verdichtet und unmittelbar erfahrbar gemacht werden? Diesen Fragen widmete sich der Workshop „Auf, neben und unter dem Olympiaberg. Geschichte(n) schreiben.“ – konzipiert von der Künstlerin und Grafikdesignerin Ina Kwon und dem Medianpädagogen Uli Tausend. Die mediengestützte Wanderung fand im Rahmen des Sonderprogramms „München 72“ anlässlich des 50-Jährigen Jubiläums der Olympischen Sommerspiele statt und ist ein Begleitprogramm der Ausstellung FORUM 054: INA KWON. Piles of Earth and Rubble des Stadtmuseums München.
Das einst flache Gelände des heutigen Olympiaparks wurde während des Zweiten Weltkrieges als Militärstützpunkt und später als Ablade der Trümmer aus der großflächig zerstörten Stadt genutzt. So entstanden drei große Trümmerschuttberge auf dem Gelände, die anlässlich der Olympischen Spiele zu Hügeln und Tälern geformt, mit grünem Rasen und Bäumen bepflanzt und schließlich mit einem verschlungenen Netz aus Wegen und Trampelpfaden durchzogen wurden. Es ist dieser Zwiespalt und die Gleichzeitigkeit von sichtbaren Erinnerungsspuren an Krieg und Zerstörung damals und Naherholung heute, welche mit den Workshop-Teilnehmenden erkundet werden soll und mit den Olympischen Spielen in Beziehung gesetzt werden kann. Denn die Ambivalenz spiegelt sich auch in den Ereignissen von 1972 wider: Dort, wo einst ‚heitere‘ Wettkämpfe stattfinden sollten, werden diese nun überlagert von Erinnerungen an das Attentat.
Format
Die Workshop-Teilnehmenden sind auf dem gut vierstündigen Spaziergang dazu eingeladen, ins Gespräch zu kommen und gemeinsam die Umgebung zu erkunden. Während die Erwachsenen den asphaltierten spiralförmigen Weg auf den Olympiaberg hinaufschlendern, flitzen die anwesenden Kinder über die kürzeren aber weitaus steileren kleinen Trampelpfade nach oben. Ina Kwon erzählt, dass es das Anliegen des damals involvierten Architekten Günther Grzimeks war, nicht nur einen einzigen breiten Weg zu konzipieren, sondern diesen durch viele kleinere Pfade unterschiedlichen Bodenbelags durchkreuzen zu lassen. So sollten Assoziationen an breite Aufmarschstraßen und damit Erinnerungen an die NS-Zeit vermieden werden. „Aber muss nicht auch die Bewusstwerdung, worauf man hier steht, als Mahnmal dienen – gerade angesichts des Krieges in der Ukraine?“, wirft eine Teilnehmerin ein. Das Wissen um Vergangenes und das Erleben und Fühlen im Hier und Jetzt klaffen auseinander. Es sind Gespräche wie diese, die erst im Laufen entstehen und welche es ermöglichen, persönliche Erinnerungen an eigene Aktivitäten im Olympiapark zu teilen, durchkreuzt von der Wahrnehmung des Alltäglichen und den damit verbundenen aufgeworfenen Fragen, die Gegenwärtiges und Vergangenes gleichsam präsent machen.
Der Workshop ist sowohl durch einen medienpädagogischen wie partizipativen Ansatz geprägt: Die Teilnehmenden sind explizit aufgefordert, ihre eigenen Geschichten einzubringen, von persönlichen Erinnerungen zu erzählen, die sie mit dem Olympiapark verbinden, aber auch spontan aufkommende Assoziationen und Gedanken zu formulieren und medial einzufangen.
Partizipatives Erzählen und der Einsatz von Medien
Alle Teilnehmenden haben die Möglichkeit, eines der bereitgestellten iPads zu nutzen, um Fotos zu machen, kleine Videos zu drehen oder kurze Social Media Beiträge zu erstellen. Im Vordergrund stehen dabei die Fragen: Welche Erinnerungen habe ich? Welche Gedanken und Ideen kommen auf? Was löst das Gesehene und die Gespräche mit den anderen Teilnehmenden in mir aus? Die so entstandenen Fotos, Videos oder Audiodateien können im Anschluss auf die interaktive Stadtkarte Mapping München 72, eine programmierte online-Karte, durch das Setzen einer Stecknadel eingetragen werden.
Während der Wanderung aufkommende Gespräche können dabei direkt als Audiodatei vertont werden. So entspinnt sich eine Diskussion über den sogenannten Architektenstreit vor den Tribünen des Olympiastadions.
Das von Günther Behnisch entworfene Stadion galt lange als Deutschlands modernstes Stadion und wurde vom Fußballverein FC Bayern München genutzt. Als in den 1990er Jahren Forderungen nach einer umfassenden Stadionmodernisierung laut wurden, verweigerte Behnisch dies jedoch und die Allianzarena wurde gebaut. Während der Audioaufnahme und der Diskussion unter den Teilnehmenden treffen bereits die ersten jugendlichen Fans eines an diesem Abend anstehenden Popkonzertes vor dem Eingang des Olympiastadions ein. Oben auf dem Olympiaberg angekommen, erhalten die Teilnehmenden 20 Minuten Zeit, alleine über das Gelände zu spazieren und sich ganz auf das Fotografieren oder Drehen von kurzen Videos zu fokussieren. Die persönlichen Perspektiven und Blickwinkel werden im Anschluss in die interaktive Stadtkarte Mapping München 72 eingetragen. Jede*r Teilnehmende kann auf der Karte den Standpunkt auswählen von dem aus das Foto gemacht wurde und dazu einige Sätze schreiben und veröffentlichen. So entsteht ein polyphoner digitaler Raum, der durch die Überlagerung unterschiedlichster Erzählungen und Momentaufnahmen die Vielschichtigkeiten gegenwärtigen Erlebens auf den Spuren historischer Schauplätze zusammenbringt.
Während die Workshop-Teilnehmenden aus der Vogelperspektive vom Olympiaberg auf die Stadt blicken und sich die Gespräche synchron mit den Blicken zwischen der erspähten Theatinerkirche im Stadtzentrum, der Zugspitze in der Ferne und damit verknüpften Erinnerungen an die letzte Wanderung um den Eibsee hin und her bewegen, werden sie auch immer wieder von nachdenklichen Fragen durchkreuzt, bspw. wo denn genau die israelische Mannschaft der Olympischen Spiele untergebracht war.
Und so durchbrechen mit Blick auf das olympische Dorf die Erinnerungsspuren des Attentats 1972 die Atmosphäre eines nach außen so harmlos wirkenden Stadtparks und die aufgeschütteten Trümmer unter dem Rasen werden spürbarer. Diese erlebte Gleichzeitigkeit findet auf der interaktiven Karte ihren Ausdruck: Neben heterogenen Berichten von Zeitzeug*innen, die ihre ganze persönliche Erinnerung zum Jahr 1972 erzählen, verdichtet sich das Bild nun mit jüngeren Perspektiven und Erfahrungen.
Ziele
Der Workshop dient der kritischen Reflexion der Stadtgeschichte und ermöglicht durch seinen partizipativen Ansatz und dem medialen Einsatz ein individuelles sich-in-Bezug-Setzen zu historischen Ereignissen. Dabei wird der Konstrukt-Charakter von erzählter Geschichte deutlich, indem die Teilnehmenden dazu aufgefordert sind, gemeinsam Geschichte(n) weiter zu erzählen und medial festzuhalten.
Das eigenständige Fotografieren und Aufnehmen von Videos sensibilisiert die Teilnehmenden für historische Schauplätze und dafür, wie Geschichte in der alltäglichen Umgebung sichtbar ist. Zudem lädt es dazu ein, diese zu hinterfragen: Wie kommt dieser Berg überhaupt hier hin?
Eingesetzte Medien
Foto
Video
Audio
iPads wurden den Teilnehmenden auf Wunsch gestellt, diese arbeiteten aber teils auf ihren eigenen Mobiltelefonen.
Interaktive Plattform muenchen72.medienzentrum-muc.de auf Basis des WordPress Plugins Open User Map
Zielgruppe
Alle Interessierten ab 14 Jahren
Ziele
Exploration
Reflexion, kritische Auseinandersetzung
Dialog und Artikulation
Partizipation
Variationen
Die Aufgabe der Teilnehmenden wurde in zwei Varianten durchgeführt. So gibt es auch die Möglichkeit, aus buntem Papier einen Rahmen zu basteln, durch welchen dann das Foto gemacht werden kann. Die jeweiligen Rahmen können zudem mit einem Satz beschriftet werden. Die so entstandenen Fotos verdeutlichen die Konstruktion bestimmter Blickwinkel und Perspektiven und setzen dabei ein bestimmtes Motiv besonders kreativ in Szene.
Insgesamt kann das Format auf andere Parks, Stadtviertel oder Orte übertragen werden. Auch die mediale Perspektive kann durch weitere kreative Interventionen variiert und oder erweitert werden.
Feedback
„Der Berg ist ein Sinnbild für das, was aus dem Krieg übrig geblieben ist“, sagt eine der Teilnehmenden beim gemeinsamen Mittagessen. Und eines der Kinder fügt hinzu: „Der Olympiaberg hätte schon näher an die Berge gebaut werden können.“ Der Workshop mit seinen medialen Elementen ermöglicht einen lebendigen Umgang mit Geschichte und fördert den dialogischen Austausch über Geschichtserzählungen. Denn Geschichtserzählungen sind ein Konstrukt und je nach Perspektive und Position können unterschiedliche historische Spuren (un-)sichtbar gemacht werden.